13. August 2020
Der lange Weg zum intelligenten Stromversorgungssystem: Die selektive Kanalüberwachung ist einem Phänomen geschuldet, das erst mit der Markteinführung elektronisch geregelter Stromversorgungen auftauchte. Was es mit diesem auf sich hat und wie Murrelektronik es löste, beschreibt diese Geschichte.
Was um Himmelswillen ist denn eine „Kanalüberwachung“! Und dann auch noch in Verbindung mit dem Begriff „selektiv“? Schnell formen sich da Bilder von gigantischen Hochseeschiffen auf ihrem Weg durch den Nord-Ostsee-Kanal, um sich den rund 250 Seemeilen langen Umweg durch Nordsee, Skagerrak und Kattegat zu sparen. Und weil der Lotse währenddessen lieber auf dem Smartphone seinen Nachrichtenstatus checkt als seiner eigentlichen Arbeit nachzugehen, überwacht er die Kanalpassage halt nur selektiv!
Dies ist zwar eine schöne Interpretation der „selektiven Kanalüberwachung“, aber sie ist eben falsch. Fachleute, die schon einmal Stunden bei der Fehlersuche an einer Maschine zugebracht haben, wissen das. Besonders aufwendig ist diese in komplexen Systemen, in denen getaktete Stromversorgungen am Ausgang die Spannung und den Strom elektronisch regeln.
Hier kann es nämlich sein, dass im Kurzschluss- oder Überlastfall sekundäre Sicherungen langsamer reagieren als das Netzgerät und dadurch diese Selektivität entfällt. Dies führt zu kritischen Situationen, wie zum Beispiel Spannungseinbrüche, und im schlimmsten Falle sogar zu Leitungsbränden. Doch wie ist es möglich, dass diese nachgeschalteten Schutzorgane nicht reagieren? Dazu bedarf es eines Blickes knapp 30 Jahre zurück.
Es war zu Beginn der 90-er Jahre, als sich im Maschinen- und Anlagenbau ein Wandel anbahnte: der Wechsel von Trafo- hin zu den elektronischen Stromversorgungen. Zu Beginn war es nur eine kleine Schar, die sich traute, die Vorzüge der neuen Geräte zu nutzen. Eine geregelte 24-V-Gleichspannung und Kurzschlusssicherheit nach einer fest definierten Kennlinie klangen für potenzielle Anwender offenbar zu schön, um wahr zu sein!
Doch der Aufstieg der elektronisch geregelten Stromversorgung war von da an nicht mehr aufzuhalten, da immer mehr OEM von deren Vorteilen profitieren wollten. Vor allem die hohe Kurzschlusssicherheit war ein Argument, das überzeugte. Blieb in den bis dahin verwendeten Trafo-Netzgeräten nämlich ein Kurzschluss unbemerkt, heizte dieser die nachfolgende Installation auf und setzte diese unter Umständen sogar in Brand. Mit den elektronisch geregelten Stromversorgungen kauften die Anwender dagegen moderne Technologie und zugleich eine höhere Betriebssicherheit mit ein.
Wie war es aber mit Kurzschlüssen außerhalb des Schaltschranks? Ausgangsseitige Leitungsschutzschalter, in der Praxis oftmals mit einem auf die Steuerung gehenden Signalkontakt kombiniert, detektierten zuverlässig Überlast und Kurzschlüsse im Feld. Wieso sollte also diese Form der Absicherung, die sich über Jahrzehnte hinweg bewährt hatte, nicht beibehalten werden? Was bei einem Trafo-Netzgerät gut und recht war, so die Überlegung vieler Anwender, musste dann bei einer elektronisch geregelten Stromversorgung ja wohl erst recht gut sein! Diese falsche Annahme ließ in den kommenden Jahren manchen Elektriker bei der Fehlersuche verzweifeln. Lag der Grund für diese Störung beispielsweise in einer blanken Leitung in einer Schleppkette, konnte allein schon die Eingrenzung des Fehlers viele Stunden, wenn nicht sogar mehrere Tage dauern.
Wie konnte es aber sein, dass die getakteten Netzteile mit ihren Vorzügen nicht fähig waren, Leitungsschutzschalter zuverlässig auszulösen? Diese Frage trieb nicht nur die Hersteller der elektronisch geregelten Stromversorgungen um, sondern trieb auch Anbieter von Automationslösungen zum Experimentieren.
Wer am Ende den Ausruf „Heureka“ für sich beanspruchen durfte, lässt sich heute nicht mehr eindeutig klären. Allerdings ist das auch nicht so wichtig. Viel interessanter ist das Ergebnis unzähliger Versuche und Berechnungen – zumal diese einen banalen Grund für das Phänomen der nicht auslösenden Leitungsschutzschalter ausmachten: den Schleifenwiderstand! Die vom Markt so begeistert gefeierten elektronisch geregelten Stromversorgungen waren wegen diesem schlicht nicht dazu in der Lage, den für das Auslösen benötigten Strom für mindestens 100 ms bereitzustellen.
Video: Mico Pro – Stromüberwachung maximal modularisiert
Der Schleifenwiderstand also! Um zu verstehen, wieso ausgerechnet dieser neueste Technologie aushebelt, bedarf es eines Abstechers in die Grundlagen der Maschinen- und Anlagenbauplanung. In dieser war es bis vor 30 Jahren eigentlich gang und gäbe, die Installation im Feld mit Typ-C-Leitungsschutzschaltern abzusichern. Was das in Kombination mit einer getakteten Stromversorgung bedeutet, erklärt ein Beispiel, in dem ein Automat mit 6-A-Nennstrom zur Anwendung kommt. Dieser benötigt gemäß der Formel 14 x Inenn einen Auslösestrom von 14 x 6 A, was in der Multiplikation 84 A entspricht. Damit eine 24-V-Stromversorgung diese 84 A überhaupt bereitstellen kann, darf deren Widerstand jedoch nur maximal 286 mΩ betragen.
Dass dieser Widerstandwert unrealistisch ist, zeigt ein Praxisbeispiel, bei dem der Schleifenwiderstand einer 5 m langen Sensorleitung mit einer Leitungsquerschnitt von 0,34 mm2 berechnet wird. Deren Widerstand ergibt sich aus der Formel R = ρ x l / A, wobei l wegen der Hin- und Rückleitung mal zwei zu nehmen ist.
Werden nun die einzelnen Werte unter Berücksichtigung des spezifischen Widerstands ρ von Kupfer (0,0178 Ω x mm2/m) eingesetzt, ergibt sich bereits ein Widerstand von 520 mΩ. Mit den weiteren Widerständen der Verteilerleitung und der Litzen sowie die Innenwiderstände der Leitungsschutzschalter und Anschlussklemmen addiert sich der Gesamtwiderstand auf über 1,3 Ω.
Auf die Formel U = R x I angewendet, bedeutet dies, dass in einer elektronisch geregelten 24-V-Stromversorgung ein maximaler Stromfluss von 18,18 A möglich ist. Diese genügen allerdings nicht, um einen Typ-C-Leitungsschutzschalter mit 6 A Nennstrom auszulösen. Er würde, wie beschrieben, mindestens 84 A benötigen.
Video Funktionsweise von Leitungsschutzschaltern und Schutzwiderstand
Die Erkenntnis, dass die getakteten Netzteile nicht den benötigten Auslösestrom für die Leitungsschutzschalter bereitstellen konnten, hatte teils kuriose Folgen. Mancher Maschinen- und Anlagenbauer baute seine Applikationen plötzlich mit vier anstatt nur einer Stromversorgung auf, nur um die Folgen von Überlast und Kurzschlüssen auf ein Minimum zu reduzieren.
Noch heute gibt es Anwendungen im Markt, in denen zwei getaktete Netzteile die elektronischen Komponenten und die Steuerung im Schaltschrank versorgen, und zwei weitere die Aktoren und Sensoren im Feld. Dieser Ansatz ist jedoch teuer, weil dieser drei zusätzlicher elektronisch geregelter Stromversorgungen bedarf.
Neben den zusätzlichen Anschaffungskosten benötigen diese außerdem zusätzlichen Platz im Schaltschrank und lösen das Problem nicht. Sinnvoller wäre es dann schon, kleinere Einheiten mit Verbrauchern zu bilden, damit bei einem Fehler nicht gleich die halbe Maschine in den spannungslosen Zustand geht.
Aber zurück zur eigentlichen Geschichte.
Mit diesen Problemen sah sich Murrelektronik erstmals im Jahr 2003 konfrontiert und reagierte schnell. Nach nur einem Jahr Entwicklungszeit präsentierte der Hersteller aus dem deutschen Oppenweiler zur SPS das intelligente Stromversorgungssystem MICO (Murrelektronik Intelligent Current Operator) für 24-VDC-Anwendungen – und der Markt reagierte begeistert.
Den schwäbischen Tüftlern war es gelungen, mit ihrer Lösung das Abschaltverhalten von überwachten Kanälen so auszulegen, dass diese bei Kurzschlüssen und Überlast so früh wie nötig, aber erst so spät wie möglich abschalten. Damit eigneten sich die Module, deren Strombereich sich fix einstellen lässt, insbesondere für Anwendungen, in denen viele Sensoren und Aktoren mit ähnlichen Ansprüchen abzusichern sind.
Die selektive Kanalüberwachung war aber nur ein Argument, das für MICO sprach. Mit einer Baubreite von 72 mm war das Gerät im Vergleich zu den zuvor verwendeten vier Leitungsschutzschaltern mit je einem Signalkontakt bereits um 36 mm schlanker – und wie die Erfahrung zeigte, funktionierte dieser Sicherungsansatz in Kombination mit einer elektronisch geregelten Stromversorgung überhaupt nicht! Also waren die bis anhin verwendeten 108 mm auf der Hutschiene ohnehin für die Katz.
Darüber hinaus brauchte es viel Installationszeit, vier Leitungsschutzschalter mit den entsprechenden Signalkontakten zu verdrahten. Daher gestalteten die Entwickler bei Murrelektronik MICO mit nur einem gemeinsamen Potenzial, von dem aus auf die einzelnen Kanäle hinausgefahren wird.
Weil sich der Schwabe nicht mit der erst besten Lösung begnügt, versah er sein intelligentes Stromverteilungssystem bereits in der ersten Version mit Eigenschaften, die auf die Bedürfnisse des Maschinen- und Anlagenbaus zugeschnitten sind. Dazu gehört unter anderem das kaskadierte Einschaltverhalten.
Dieses Verfahren verteilt die Einschaltspitzen, weshalb es keine überdimensionierten Stromversorgungen mehr braucht. Bei diesem Vorgang gehen die angeschlossenen Kanäle mit einer zeitlichen Verzögerung von etwa 70 ms ans Netz. Obwohl dieser Vorgang bei einem vierkanaligen Gerät nur etwas mehr als 200 ms beträgt, genügt das bereits, um getaktete Netzteile nach der tatsächlich benötigten Leistung zu dimensionieren. Das spart Platz im Schaltschrank und hält die Anschaffungskosten gering, da die Einschaltspitzen sauber kompensiert werden.
Mit seinen intelligenten Eigenschaften gewann MICO seit der Markteinführung vor 16 Jahren das Vertrauen vieler Maschinen- und Anlagenbauer rund um den Globus. Bis Ende 2019 waren es 8‘561‘513 überwachte Strompfade, die in den unterschiedlichsten Anwendungen weltweit eine hohe Betriebssicherheit garantieren.
Durch diese enorme Nachfrage „Sicherheit made by Murrelektronik“ erfuhr die MICO-Familie über die Zeit hinweg einen sukzessiven Zuwachs, um für jede Anwendung eine maßgeschneiderte Lösung bieten zu können. Diese Vielseitigkeit schätzt der Markt. Von daher darf sich MICO getrost mit einem Lotsen vergleichen lassen, der Hochseeschiffe sicher durch den Nord-Ostsee-Kanal manövriert, ohne dabei an den Kanalwänden zu streifen. Und mit dieser Sicherheit im Rücken lässt sich auch einmal entspannt ein Blick in die Ferne oder auch auf das Smartphone wagen.
Murrelektronik bietet ein Portfolio an Lösungen für multinorme Stromversorgungen an. Dabei werden einheitliche und bis ins Detail aufeinander abgestimmte Produkte eingesetzt, die umfangreich zertifiziert sind – dadurch ist die gesamte Lösung so konzipiert, dass sie allen relevanten Normen entspricht, um weltweit eingesetzt werden zu können. Das Whitepaper zeigt die Vorteile der multinorme Stromversorgungen auf und enthält ganze Schaltpläne.
Zum Download des Whitepapers „Multinorme Stromversorgungskonzepte“
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